Gefährliche Nachbarschaften

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Park Fiction präsentiert:

GEFÄHRLICHE NACHBARSCHAFTEN

Ausstellung: 2. bis 27. November 2022

Wie verändert sich die Skulptur wenn ein Polizist daneben steht?“ – Mit dieser Frage als Leitmotiv hat das Park Fiction Komitee 17 internationale Künstler*innen eingeladen, Arbeiten für den öffentlichen Raum Hamburgs zu entwickeln.

Alle Arbeiten werden in St. Pauli gezeigt, rund um den Park, und innerhalb des Ausdehnungsbereichs des sogenannten „Gefahrengebietes“ vom Januar 2014, bzw. des „Gefährlichen Ortes“ von heute.

Daniel Richter an der Balduintreppe

Kann die Kunst in einer diskursiv, gesetzlich, politisch und polizeilich konfrontativen Situation agieren?

Das Park Fiction Komitee findet, die Kunst kann sich einmischen und sie sollte das auch tun. Unsere Ausstellung versucht die Wirkungsmacht von Kunst und Polizei in ein Verhältnis zu setzen.

Und das tut diese Ausstellung mit einfachen Mitteln: Die Latex-Drucke verteilen sich spielerisch, auf leichte Holzgerüste gespannt, über die herbstlichen Grün- und Freiflächen. Viele Arbeiten nutzen Trompe l’oeill Effekte vor Ort und arbeiten so facettenreiche Bedeutungsschichten aus dem Kontext heraus.

Wir zeigen dokumentarische Zeichnung und Fotografie, aber auch lakonische Minimalwerke, die, wie ein Bühnenbild, eben erst dann funktionieren, wenn etwas oder jemand daneben tritt. Die Motive reichen von utopischen Blicken in die Vergangenheit zu dystopischen Zukunftsvisionen, von Analysen polizeilicher Verhaltensprotokolle zu malerischen Reflexionen des kontrollierenden Blicks.

Alle Bilder, Zeichnungen und Gedichte sind mit einem Streifen versehen, der an die Warnbanderolen der Zigarettenplakate erinnert. Doch statt vor den gesundheits-schädlichen Auswirkungen des Tabakkonsums zu warnen, fragen diese nach den Nebenwirkungen der Polizeipräsenz.

Dem Projekt geht es um die Frage: Was wird durch die Polizeipräsenz für ein Blick installiert? Dabei geht es um den Gedanken von Althusser, aus seinem Buch über die „Ideologische Anrufung“. Althussers Beispiel: Wenn der Polizist sagt „He, Sie da!“, dann ist die Reaktion eine komplett andere, als wenn irgendjemand sagt „He, Sie da!“. Wenn der Polizist sagt „He, Sie da!“, wird in dem Moment eine Unterwerfung und ein Subjekt konstitutiert. Da Uniform und Auftreten auch Sprache sind, bewirkt die Installation von Streifendichte und „Gefährlichkeits“-Narrativen etwas ganz Ähnliches und Grundsätzliches.

Nabila Malalai Attar

Die Ausstellung spannt einen dramaturgischen Bogen vom Arrivati Park / Neuen Pferdemarkt über Park Fiction bis zum Fischmarkt.

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Hans D. Christ setzt die Beleuchtungs- und Anti-Corner-Politik ins Verhältnis zum überbordenden Kontrollregime im Stuttgarter Schlossgarten im Sommer 2020. Die Stuttgarter Krawalle waren dort ausgebrochen, nachdem rund 300 Jugendliche ergebnislos gegen eine rassistische Polizeikontrolle protestiert hatten. Eine Woche später leuchteten Flutlichtmasten des THW den gesamten Park aus. Christ kontrastiert das klassisch-mythologische Setting der weissen Skulpturen und Opernfassaden mit den weiss gekleideten Körpern der kontrollierten Jugendlichen und den Schwarz-Blauen Gestalten der Polizei.

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Andreas Siekmann beantwortet die Frage nach der Auswirkung des uniformierten Sicherheitsblicks mit einem Zeichnungspaar aus der Serie „Aufzeichnungen aus dem postfaktischen Zeitalter“. „Verträge im Wirtschaftsministerium werden manchmal für ausgesuchte Parlamentarier zur Einsicht gezeigt, die weder Kamera, Stift noch Handy dabei haben dürfen. Dann wird ein Stick vom Bundeskanzleramt angeschlossen und unter Aufsicht von Sicherheitspersonal plus Überwachungskameras können dann die Verträge eingesehen werden, die manchmal bis zu 70% geschwärzt sind.“ (Siekmann)

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Autor Niels Boeing erinnert an die verloren gegangene informelle Freiheit auf den nächtlichen Strassen des Viertels mit einer Szene auf der Strasse vor dem sogenannten „Stadtteilwohnzimmer“ der Initiative „Wohl oder Übel“. Implizit wirft sein Foto die Frage auf:„Wie verändert sich das Treffen (das Gespräch) wenn ein Polizist daneben steht?“

Malte Struck, Mimose, 2021 / 2022

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Künstler Malte Struck interpretiert die Plakatserie im Stil einer Werbung für eine Keramik: Sein Blumentopf für eine Mimose ist mit einem neonfarbenen Aufkleber versehen, doch der wirbt nicht für ein Sonderangebot, sondern greift jenen Diskurs um Beleidigung und illegale Hausdurchsuchung auf, der den Hamburger Innensenator bundesweit berühmt gemacht hat. Wer den QR-Code aufnimmt wird zu einem Video geleitet, dass den Moment des Stickerbareissens durch die Polizei nachinszeniert.

Ariane Andereggen, Schmuckstrasse

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Die Schweizer Künstlerin und Performerin Ariane Andereggen setzt in fünf genial-einfachen Tusch-Zeichnungen das Ausbeutungs- und Grenzregime in Verbindung mit solidarischer Körperpolitik der Prekarisierten, mit Überwachungs-, Flug- und Fluchtfantasien.

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Der Hamburger Künstler Christoph Schäfer zeigt eine lapidare Szene aus dem Alltag von Sankt Pauli: Wie selbstverständlich nehmen zwei Beamte der sogenannten Task Force die gesamte Breite des Bürgersteigs in Anspruch, während die ihre Einkaufstüten heimtragenden Bewohner*innen ebenso selbstverständlich zwischen parkenden Autos hindurch der Begegnung über die Strasse ausweichen. Was banal aussieht kann im Kontext des Gefahrengebietes auch schon als verdächtiges Verhalten ausgelegt werden.

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Fotograf Hinrich Schultze nimmt mit Humor eine Polizeieinheit in Kampfmontur in den Blick, die in einer etwas unvorteilhaften Situation abgelichtet wird.

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Daniel Richter zeigt ein Bild aus der Zeit der Jahrtausendwende. Mit der Auflösung der innereuropäischen Grenzen ging eine zunächst unbemerkt bleibende Ausweitung des Grenzregimes auf das gesamte Territorium einher, das auch die Situation rund um die Hafentreppe prägt. Richters aufgelöste Malweise, ein Graffiti- und Wärmekamera-geschulter Postimpressionismus, korrespondiert mit der dargestellten Situation einer Kontrolle von an Bäume gestellten Personen, wie sie hier an der Treppe häufiger stattfindet als anderswo in Deutschland.

Margit Czenki, Yaya Jabbi Circle, Park Fiction

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Margit Czenki, Künstlerin und Filmemacherin, zeigtein Panorama, fotografiert ausschliesslich aus der Perspektive ihres privaten Balkons. Neben Szenen nachbarschaftlicher Aneignung des Stadtraums dominieren Polizei-Konstellationen die Strasse: Stöbern in Blumentöpfen, Treffen zu sechst zum Plausch auf dem Gehsteig, Laufen in Marschordnung, Anhalten einer Schwarze Person beim Plakatieren. Und dann wird plötzlich eine fälschlich verdächtigte Frau aufs Pflaster gedrückt. Die Bilder arbeiten Verhaltensprotokolle heraus, die ganz unabhängig von den Fehlleistungen Einzelner eine ganze Nachbar*innenschaft als Verdachtsfall konstruieren.

Prateek Vijan, Schauermannspark

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Prateek Vijan hat uns einfach einen Berg gezeichnet, der an frühe Minimal-Plastiken von Bruce Naumann erinnert, oder an ein Filmset, also eine Skulptur, die darauf wartet, wie sie sich verändert, wenn etwas anderes dazu tritt.

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Soyon Jungs Radierung aus der Reihe „Aushungern und demoralisieren“ geht die Leitfrage der Ausstellung und die weitere Frage gesellschaftlicher Ausschlüsse und Grenzziehungen indirekt und dystopisch an. Die historische Funktion von Stadtmauern erlebt in einer von ihr imaginierten Zukunft ein Revival, weil künftige Metropolen sich offenbar gegen aufbegehrende Landbevölkerungen schützen wollen.

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Die Künstlerin Alice Creischer hat uns ein Gedicht geschickt, das zwischen Dystopie und Rachefantasie oszilliert,und dabei die sich verschliessenden Freiheitsversprechen des Hafens und der Seefahrt, und die Ketten, als die sich die Verbindungskabel entpuppt haben, in den Blick nimmt.

Soyon Jung, Laura Ziegler, Alice Creischer, Schauermannspark

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Die Künstlerin Laura Ziegler zeichnet sich und eine Freundin beim Basketballspielen unter Polizeibeobachtung im Park Fiction und überlässt es der Betrachterin, was davon zu halten ist.

Nabila Malalai Attar

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Die Hamburger Malerin Nabila Malalai Attar hat eine ganz spezielle Art entwickelt, die Gegenstände in die Fläche des Bildraums zu bringen. Dadurch verleiht sie den Figuren, bei allem erzählerischen Gehalt, eine grundsätzliche Ruhe, und den Körpern der Polizist*innen eine weiche, zudringliche Bedrohlichkeit in einer Überwachungssituation auf dem Basketballfeld im Park Fiction.

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Pina Distelmeyer und Sidney Logan, zeichnen eine absurde Schilderung einer Nachbarin, die während des Lock-Downs im Park Fiction gleich von 5 Polizeiaugenpaaren dabei verfolgt wurde, wie sie ihren Hund ausführt.

Simone Bergmann, Isle of Wight 1970

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Der Rundgang endet mit einem utopischen Blick zurück nach vorn:

In der kargen Weite der Betonfläche zeigt Simone Bergmann Szenen am Strand der Isle of Wight, am Rande des berühmten Festivals 1968. Ein riesige Menge Menschen strömt wie magnetisch angezogen auf einen Fluchtpunkt im flachen Wasser zusammen. Die Szene wirkt, wie eine Ursprungsszene der assembly, des forderungslosen Zusammenkommens, das am Ursprung fast aller demokratischer Bewegungen der letzten 12 Jahre stand – vom arabischen Frühling zu #occupywallstreet, von den spanischen Platzbesetzungen bis Gezi. Aber auch nach den Beschränkungen und der Distanz der Corona-Jahre entwickeln Bergmanns Bilder eine fast betörende Verführungskraft.

Zum Hintergrund:


Park Fiction gilt seit Gründung 1995, und nicht zuletzt seit der Teilnahme an der documenta 11 im Jahr 2002 als ein Kunstprojekt, das als Teil eines Gefüges aus sozialen und politischen Initiativen in die Wirklichkeit eingreift. Besonders in Sachen Demokratisierung der Stadt-Planung hat das Projekt Pionierarbeit geleistet.


Als 2005 die Ergebnisse dieser kollektiven Wunschproduktion, nämlich der Park mit den ikonischen Palmen, eröffnet wurde, wurde das benachbarte Gelände zum „Gefahrengebiet“ ernannt und damit die gesamte Bevölkerung unter V erdacht gestellt.


Während durch Park Fiction der Planungsprozess demokratisch geöffnet wurde, wurden gleichzeitig die Grundrechte massiv eingeschränkt und Polizeibefugnisse ausgeweitet. Besonders für Schwarze Menschen und People of Color hat das ständige rassistische Kontrollen und willkürliche Inhaftierungen zur Folge.


Zwar wurde das „Gefahrengebiet“ 2015 gerichtlich für verfassungswidrig erklärt, doch kurz darauf tauchte es unter neuem Namen wieder auf, als „Gefährlicher Ort“. Seitdem ist auch eine sogenannte „Task Force Drogen“ auf den Strassen St. Paulis unterwegs.

Was die Hamburger CDU (beeindruckt von den Erfolgen des Rechtspopulisten Schill) begonnen hatte, findet also bis heute Fortsetzung.

Künstlerin Laura Ziegler, selbst mit einer Arbeit in der Ausstellung vertreten sagt: “Eine der tolerantesten Nachbarschaften Deutschlands ist zum Testgebiet einer dichten Polizei- Bestreifung geworden.“


Die Ausstellung findet im Rahmen von „Zurück in die Zukunft – 41 Jahre Kunst im öffentlichen Raum“ statt, initiiert durch die Hamburger Behörde für Kultur und Medien. Gerade nach den Beschränkungen der Corona-Zeit finden wir es wichtig, den öffentlichen Raum wieder als Ort des Diskurses und der Kritik zu nutzen.

Simone Bergmann, Isle of Wight 1970

Aussstellungsrundgang in English language:

Sonntag 6. November, 15 Uhr ab Arrivati Park

Radio: „Hey Sie da!“ im Deutschlandradio Kultur am 2.11.2022:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/die-polizei-im-hamburger-gefahrengebiet-he-sie-da-podcast-dlf-kultur-56d72d17-100.html