NEWSLETTER #4: EIN RAUM OHNE DACH


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NEWSLETTER #4:
EIN RAUM OHNE DACH


Hei folkens!
Die Tage werden grauer, das Geld knapper, die Anoraks dicker, die Begrüßungen norwegischer, der Lockdown strenger und das in-den-Süden-Fliegen müssen wir weiterhin und vorerst unseren gefiederten Freund*innen, den Gänsen, überlassen. Heute geht’s um Wunschproduktion, Open Air Planung, das Vergnügen gekrümmten Betons, einen dänischen und einen norwegischen Maler, um pandemische Architekturen in Italien und ein polizeiliches Nachspiel: 


Standbild aus einem Dreisekundenclip von Marijam*. Sie ist bei Park Fiction dabei und hat einen coolen Instagram account voller Poesie: instagram.com/marijamcamara

GEDANKEN FLIEGEN
Unser Online-Auswertungs-Tool ist gerade zum 3. Advent fertig geworden – hurray, jetzt kann die Arbeit losgehen! Deshalb von uns an dieser Stelle noch keine Einblicke in die Ergebnisse, aber LKW-Ladungen-voll-Dank an die St. Pauli-Programmierer*innen unseres Vertrauens, Tim und Michael von Generation Digitale und an Wikiklaus, den süddeutschen Computerlinguisten.

Als Treffen-mit-Abstand noch möglich waren, haben wir im Park Fiction Komitee mehrstündige Sichtungs-Sessions gemacht – und waren überwältigt. Denn die Qualität, die Durcharbeitung und die Intensität der Beiträge hat uns die Schuhe ausgezogen. We feel motivated!

Aus Gesprächen mit der Verwaltung wissen wir, dass der Uferstreifen bereits im Focus der Planung liegt. Der soll in Zukunft durchgängig begehbar werden. Das heißt: Der Bereich zwischen Landungsbrücken und Fischmarkt wird in Zukunft neu sortiert. Aber wie? Diese Diskussion möchten wir im kommenden Jahr mit euch weiter führen.

Solidarische Nachbarschaften: Park Fiction nutzte den Garten des Überquell mit den Schüler*innen als Open Air Klassenzimmer. Die Brauerei und Pizzeria in den Kasematten unterm Schauermannspark nutzt das Dach seines Kühlhauses neuerdings als Schulgarten. Die Köch*innen des Lokals kooperieren wie wir mit der Stadtteilschule am Hafen und der Ganztagsschule St. Pauli – so bekommen die Beete auch in den Sommerferien Pflege.
Foto (c) Park Fiction 2020

OPEN AIR PLANUNG
Im Anschluss an die offene Wunschproduktion im Park als erste Sondierungsphase für den noch unbebauten Uferstreifen haben wir im Spätsommer drei Planungs-Workshops mit den höheren Jahrgängen der Stadtteilschule am Hafen gemacht. Das benachbarte Lokal Überquell hat uns dafür sein Gemüsegartendach zur Verfügung gestellt – Danke an alle Lehrer*innen und die sozialen Pizzabäcker*innen!
 
STRUKTUREN GEHEN NICHT AUF DIE STRASSE
Die Denker*innen Gilles Deleuze & Felix Guattari haben den Begriff „Wunschmaschine“ in der Folge der 68er-Revolte entwickelt – auch deshalb, weil das marxistische Denken nicht ausreichte, um den antiautoritären Aufstand und die Dynamik der Ereignisse zu erklären.

Park Fiction hat den Begriff 1995 aufgegriffen und für die Stadtplanung produktiv gemacht, um die Stadt dem spießigen Kommando von Verwaltung und Investorenlogik zu entreißen. Ausserdem interessieren uns Möglichkeiten, wie Kollektivität (jenseits des Konsenses, jenseits der Dominanz von Honoratioren-Lobbys) Ideen entwickeln, austauschen und radikalisieren kann.

Deshalb halten wir nichts davon, einen Prozess vorab thematisch einzuengen. Stattdessen versuchen wir, Situationen zu schaffen, in denen es leicht fällt, „out of the box“ zu denken – oder gemeinsam Ideen hin und her zu spielen und diese schlauer zu machen.

Alle Beiträge bekommen hashtags und werden nach Themen sortiert. Das nennen wir „Clustern“. Und dabei stopfen wir Entwürfe nicht in vorgefertigte Schubladen, sondern im Gegenteil: wir versuchen im Material der Wunschproduktion die neuen Konzepte zu finden – ganz ähnlich, wie Musiker*innen, die aus einer spontanen Improvisation versuchen, ein neues Stück zu entwickeln.

Basis von allem ist das genaue Hingucken, mit unterschiedlichen Augen, kulturellen und fachlichen Hintergründen – und daraus ein facettenreiches Bild zu erzeugen, was ein Gebiet in Zukunft können muss.
 

Asger Jorn:
Normalzustand
Ölmalerei, 1959

DER DISKRETE CHARME DER BOURGEOiSIE
Statt nun alle Beiträge glattzulutschen oder auf einer Abstraktionsebene zu entschärfen, die auf ein post-it oder in eine Exceltabelle passt, versuchen wir, Unterschiede und Widersprüche sogar zuzuspitzen, so ungefiltert wie möglich zu erhalten und so zu akzentuieren, dass sich Gegensätze gegenseitig stärken.

Denn die hohe Schule des Kompromisses, auf den die bürgerliche Demokratie so Stolz ist, erweist sich häufig als die Dominanz des graumelierten Mittelschichts-Geschmacks über die drastischere Ausdrucksweise derjenigen, die nicht so privilegiert sind.
 
Aus diesen Clustern unterschiedlicher Ansprüche entsteht dann im nächsten Schritt eine Programmatik.

Aber ein Programm macht noch keine Gestaltung: Es  geht auch darum, das Persönliche wieder in die Stadtplanung zu bringen. Denn die vielen Talente unserer Nachbarschaft haben ja nicht nur allgemeine Ideen, sondern oft konkrete Entwürfe zu bieten, die manchmal das schaffen, was gute Kunst immer versucht: Eine durch den Raum schwebende Idee, einen Zeitgeist, eine unerkannte Möglichkeit auf den Punkt zu bringen.

Genau solche aus dem Rahmen fallenden Ideen kommen in der Planung eigentlich gar nicht vor. Asger Jorn war diese Austreibung der Bedeutung aus den Objekten so zuwieder, dass er gegen die funktionalistische Hochschule für Gestaltung in Ulm ein „Bauhaus Imaginiste“ gründete, das sich zur Aufgabe gesetzt hatte, die Vorstellungskraft zurück in den Alltag zu bringen. Genau das versuchen wir auch – und hoffen, das ihr im kommenden Jahr weiter daran mit arbeitet.

Dieses Jahr brauchten wir keine eigenes Geld in die Wunschproduktion zu stecken, denn der Kiezhelden Spendenbeirat des FC St. Pauli hat unsere Materialkosten übernommen – danke für eure Großzügigkeit, liebe Spender*innen!
 

Pandemic Happiness am Uferstreifen – per mail eingesandter Vorschlag aus der Wunschproduktion.

PANDEMISCHE ARCHITEKTUREN

Wunschproduktion heißt für uns nicht nur, auf Papier oder an Modellen Ideen zu sammeln – sondern auch direkt im Raum. Wir möchten den Betonstreifen am Elbufer im zweiten Sommer der Pandemie 2021mit Diskussionen und Veranstaltungen bespielen, zum Beispiel mit einem „Open Air Zimmer“, das sich anfühlt wie ein „Room without a Roof“ (Pharrell). Also ein happy, pandemieverträglicher Ort für Diskussionen und Workshops, die Konzentration und frische Luft brauchen. Vielleicht nach dem Modell dieses Open Air Ateliers von Edvard Munch (Bild unten). Der norwegische Maler war so sehr von der Arbeit an der frischen Luft überzeugt, dass er sogar im Mantel im Schnee draußen gearbeitet hat. So etwas wäre natürlich auch für die Schule interessant. Warum haben wir das nicht jetzt schon?
 

Pandemic Happiness Production: Edvard Munch in seinem Open Air Atelier 1927. Nachbar Reinher erklärte uns jüngst dazu, dass für die Norweger*innen generell das Draußensein das größte Glück bedeute.  https://worldhappiness.report/

IF YOU FEEL LIKE A CHAPEL WITHOUT WALLS
Natürlich ist unser Jahrhundert nicht das Erste, das sich über Aerosolverdünnung und pandemiegerechte Räume Gedanken macht. Im Gegenteil, vielleicht waren die seuchengerechten Bauten früher sogar prächtiger und einfallsreicher als heute. Die Kirche San Carlo Lazzaretto zum Beispiel, heute mitten in Mailand gelegen, war ursprünglich ein pandemietaugliches Gebäude – ein Versammlungsort mit Frischluftzufuhr, mit Schatten und Akustik – aber ohne Wände!

Architekt Pellegrino Tibaldi baute die Kirche ohne Wände als zentrales Gebäude eines großen Lazzaretthofes vor den Toren von Mailand 1558 – 1592. In den Bogengängen konnten die Kranken an die Sonne und die frische Luft.

NACHSPIEL
Noch ne gute Nachricht: Weil die Polizei die über Radio im Park gehörte Gedenkveranstaltung für die Ermordeten von Hanau unterbrechen wollte, hatte sich Park Fiction’s Margit bereit erklärt, die spontane Zusammenkunft als Versammlung anzumelden. Team Blau war daraufhin der Ansicht, Margit als Veranstalterin einer unangemeldeten Versammlung anzeigen zu müssen. Nach Akteneinsicht und Widerspruch durch unseren Rechtsanwalt  Carsten Gehricke wurde das Verfahren eingestellt.

Kommt gesund und munter durch den Advent und ins Neue Jahr!

Fussnoten:

* Kreatur der Nacht: Nicht nur wir, auch Fatih Akin ist Marijam Fan. Akin hat ein neues Video gedreht, das die Leere der Reeperbahn für ein suggestives Musikvideo nutzt.

** Geliebte Viecher in the Night ist der Titel eines wahnsinnig guten Bildes von Asger Jorn, das es leider nicht im Internet gibt. Dafür aber im Museum in Emden. Nur falls ihr eure Verwandschaft in der Ecke mal wiedeer besucht…

 





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